Brief #2 von Andrea

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Erhalten nach Andreas Entlassung

JVA Köln, 3. Oktober 2018

Hallo ihr lieben Menschen da draußen,

ich habe mich schon länger nicht mehr gemeldet und verspüre das Bedürfnis, dies mal wieder zu tun. In der ganzen Zeit ist gar nicht so viel passiert, im Grunde bin ich den ganzen Tag mit Warten beschäftigt. Vor gut einer Woche bin ich in ein anderes Haus umgezogen worden.

Hier in Haus 9 habe ich ein bisschen mehr Gelegenheiten, um die Zelle zu verlassen:

Ich kann mich zu Gruppen anmelden, Anträge schreiben, in der Hoffnung, mit anderen Menschen Termine für die Küche zu bekommen, wo wir uns selber etwas kochen können oder einfach zwei Stunden zusammen Kaffee trinken können, und es gibt hier täglich neben der Freistunde auch Umschluss.

Einfach ist das Leben hier natürlich trotzdem nicht. Bei den allermeisten Mahlzeiten zweifel ich daran, dass sie vegan sind. Tage, an welchen ich mich lediglich von Brot und Haferflocken ernähre, sind nicht die Seltenheit.

Da das erste Geld natürlich erst einen Tag nach dem Einkaufstermin auf meinem Konto war, neigen sich meine Vorräte schon dem Ende zu, obwohl der nächste Einkaufstermin erst in über einer Woche ist. 

Dank der Solidarität mancher Mitgefangener ist mein Margarine- und Marmelade-Vorrat immerhin groß genug, sodass ich das Brot nicht trocken essen muss.

Da ich mittlerweile als vegetarisch und laktosefrei im System bin, gibt es anstatt Wurst und Käse manchmal Rohkost zum Brot. Immerhin! Auch wenn die Grünen und die Linken momentan in der Opposition sitzen, könnten die sich doch eigentlich mal dafür einsetzen, dass alle Menschen die Möglichkeit haben müssen, sich vegan zu ernähren. Also egal, ob Kantine am Arbeitsplatz oder im Gefängnis.

Aber nicht nur das Essen ist nicht so toll, auch ist die Gesellschaft mit dem Umzug nicht bemerkenswert besser geworden.

Rechtes Gedankengut ist hier nicht die Seltenheit. Holocaust-Verharmlosung gehört hier zu Tagesordnung, mindestens ein Mensch hat ein Hakenkreuztattoo.

Ein Großteil der Mitgefangenen hat vom Hambi gehört und findet gut, was wir machen, und so versuche ich so gut es geht nicht in Konflikte zu geraten.

Heute in der Freistunde wurde einem Mitgefangenen sehr konkret Gewalt angedroht, ich bin froh, wenn ich so etwas für mich vermeiden kann, wobei ich auch nicht den Mund halten will, wenn die Nazis hier ihre ekelhaft menschenverachtenden Sprüche los lassen.

Ach von Seiten der Bediensteten muss ich mir von Zeit zu Zeit blöde Sprüche anhören. Ich wünschte, ich wäre schlagfertiger und öfter in der Lage, kluge Dinge zu erwidern.

Körperlich bin ich immer noch nicht auf der Höhe, der Entzug der Medis macht mir nach wie vor zu schaffen, wobei es besser wird und ich mir ja selber diesen Weg ausgesucht habe.

Der Arzt hätte mir die Medis ja wieder gegeben, aber ich wollte die Chance nutzen, schon vier Tage auf Entzug zu sein, und das Absetzen durchziehen, worüber ich auch froh bin.

Viel schlimmer sind die psychischen Qualen, welche ich hier jeden Tag durchstehen muss. Hier in der Zelle fühle ich mich nutzlos. Ich habe das Gefühl, nicht an dem Kampf draußen beteiligt zu sein, obwohl ich das für so wichtig halte und gerne an eurer Seite kämpfen würde.

Nun aber ich mein Platz hier in der Zelle, wobei es vermutlich auch wichtig oder gut für das Erreichen unseres Ziels ist, dass Menschen hier sind. Ich beiße also für das große Ganze in den sauren Apfel. 

Ich vermisse die Freiheit sehr. Es ist für mich nicht leicht ertragbar, von der Willkür einzelner Menschen abzuhängen. Ich vermisse das Leben in der Natur und die Natur im Allgemeinen.

Ich vermisse das solidarische Miteinander, unseren diskriminierungsarmen Raum der Selbstbestimmtheit. Erst jetzt, wo ich in dieser absolut männlichen Welt hier leben muss, lerne ich zu schätzen, was wir haben.

In dieser vermutlich 100%igen cis-Gesellschaft fühle ich mich sehr unwohl. Ich merke erst jetzt, wie sehr ich das Konzept der Männlichkeit für mich ablehne, aber mir fehlen Menschen zum reden.

Das Gefühl der Einsamkeit füllt mich bei Zeiten vollständig aus. Es gibt zumindest eine kleine Gruppe von Menschen – teilweise auch queer – vor denen ich sein kann, wer ich wirklich bin.

Darüber bin ich sehr froh. Aber ich werde eh nicht auf alle Ewigkeit hier bleiben und ich werde die Zeit hier durchstehen.

Bisher erreicht mich nahezu gar nichts von der Außenwelt. In den jetzt fast drei Wochen, die ich mittlerweile gefangen bin, habe ich noch keine TAZ bekommen, obwohl diese bestellt ist.

Es wurde noch kein Besuch erlaubt, auch mein*e Anwält*in war noch nicht hier im Knast, da wir erst die Akten warten wollten und die wohl immer noch nicht da sind.

Gestern hat mich der erste Brief erreicht, welcher mich auf Grund des Themas, der Todesfall im Hambi, nicht so erfreuen konnte, wie ich es mir für die erste Post erhofft habe.

Leider steht kein Datum auf dem Brief, weshalb ich nicht nachvollziehen kann, wie lange dieser unterwegs (bzw. auf dem Schreibtisch) war.

Dafür war eine ordentliche Menge Glitzer enthalten, was jetzt hoffentlich mehrere Schreibtische schmückt. Ich verteile jenen Glitzer momentan auch überall im Haus weiter, dass mensch solche Freuden teilen sollte, ganz solidarisch und am Wohle der Gemeinschaft orientiert.

Denkt also, wenn ich Briefe schreibt sowohl an Datum als auch an Glitzer, denn mehr Glitzer = mehr Freude für alle.

Und wenn ich schon dabei bin: Ihr könnt die Seiten auch nummerieren und erzählen, wann ihr schon mal einen Brief geschrieben habt, dann kann ich nachvollziehen, ob was fehlt. Dies hier ist z.B. der dritte an das ABC adressierte Brief.

Wie beschäftige ich mich also, wenn so wenig hier passiert? Das ist eine gute Frage.

Ich verfolge die Nachrichten sehr akribisch, insbesondere über das Radio, welches ich im neuen Haus zu Verfügung gestellt bekommen habe.

Des weiteren versuche ich jede Zeitung, welche mir hier über den Weg läuft, zu ergattern. So komme ich mittlerweile fast täglich an den Kölner Stadt-Anzeiger vom Vortag, mit ein bisschen Glück bin ich auch schon an den Freitag, die FAZ am Sonntag und sogar einmal eine TAZ gekommen.

Insbesondere die vielen Pro-Hambi-Artikel freuen mich natürlich. Auch die häufiger werdenden Pro-Asyl und Anti-Nazi Demos und die positive Berichterstattung darüber halten mich ein bisschen bei Mut.

Auch wenn ich in einer sehr unangenehmen Situation feststecke, habe ich Hoffnung auf eine Revolution.

Vor allem die Ausgabe der TAZ ist sehr besonders für mich gewesen. Es lag ein großer Flyer zu der Hambi-Demo am 6. Oktober bei, für welche gleichzeitig auch auf der Titelseite geworben wurde.

Schon alleine das hat mich extrem gefreut, aber die Ausgabe hat dazu auch noch ein Interview und ein großes Bild von Winter. Die ganze Seite ist mensch gewidmet. 

Ich bin ganz ehrlich, ich war durchaus eifersüchtig, dass Winter schon Besuch bekommen hat, wo ich doch früher festgenommen wurde. Aber rational weiß ich auch, dass das wohl vor allem mit der Presse und dem Internethype um mensch zu tun hat und ich glaube dazu, dass die mediale Aufmerksamkeit bei Winter genau richtig ist. 

Vielmehr sollte ich nicht sauer auf Winter sein, sondern auf die Repressionsmaschinerie, die mir keine Besuche erlaubt und alle Briefe bis auf den unglaublich traurigen zurück hält. Ich möchte Winter nichts weg nehmen, ich freue mich, dass mensch Besuch bekommt, ich möchte das halt nur auch gerne haben.

Insbesondere freut mich auch das Bild von Winter, welches jetzt in „meiner“ Zelle hängt, wie auch andere Zeitungsartikel über den Hambi mit schönen Bildern von zu Hause und teils bekannten Personen.

So kommt mir der Forst nicht ganz so weit weg vor, ein bisschen vertrautes an „meinen“ Wänden.

Wenn ich gerade nicht mit Nachrichten beschäftigt bin, versuche ich die Zeit ein wenig zu nutzen und lese viele Bücher. Leider gibt es auch hier, wie eigentlich überall, manchmal Schwierigkeiten.

So ist es gar nicht so einfach an vernünftigen Lesestoff zu kommen. Da ich nicht mehr in Haus 1 bin, habe ich jetzt zwar Zugriff auf die Bibliothek, das klingt aber vielversprechender, als es in Wirklichkeit ist.

Zunächst muss mensch nämlich erst einmal an den Bücherkatalog kommen. Dieser Bücherkatalog ist ein Aktenordner mit dem gesamten Bestand, aufgelistet und abgeheftet.

Einige Seiten kommen dir schon entgegen, aber dann sind sie immerhin noch da. Die Seitenzahlen lassen vermuten, dass das nicht mehr auf alle Seiten zutrifft.

Es handelt sich wirklich um genau einen Aktenordner für das gesamte Haus 9, wo mehr als 40 Menschen gefangen gehalten werden. Es dauert also ein bisschen, bis mensch diesen dann auch in der Hand hält, nachdem mensch einen Antrag gestellt hat, um auf die Warteliste für diesen tollen Katalog der Literatur und des Wissens – im übrigen auf Stand von 2016 – aufgenommen zu werden.

Sagt ich „Wissen“?

In der Kategorie „Mathematik“ gibt ein ein (!!) Buch, in der Kategorie „Naturwissenschaft“ findet sich neben einer Reihe Kinderbücher ein Buch über Astrologie (richtig, dieser Horoskopehokuspokus).

Ein Buch, welches eine Einführung in die einfache und spezielle Relativitätstheorie verspricht, ist das einzige, für mich halbwegs interessant aussehende Buch, ich bin gespannt, was mich erwartet.

Wenn wir uns nun Bücher ausgesucht haben, müssen wir als nächstes einen Antrag mit den 5-stelligen, den Büchern zugeordneten, Nummern ausfüllen. Wenn wir und andere Menschen, welche die Nummer übertragen oder die zugehörigen Bücher suchen, uns nicht vertun, ist das Buch jetzt schon fast auf dem Weg, vorausgesetzt, es ist gerade nicht verliehen.

Gibt es von einem Buch mehrere Exemplare des gleichen Buches, so sind diese übrigens unter verschiedenen Nummern aufgelistet, nicht zwingend nebeneinander. Mit ein bisschen Pech bestelle ich womöglich noch ein Exemplar, welches verliehen ist und bekomme nicht das andere Exemplar des gleichen Buches, da ich die Nummer ja nicht aufgeschrieben habe.

Und noch eine Kleinigkeit: Bücheraufträge werden immer nur montags bearbeitet. Bis zum hoffentlich richtigen Buch kann es also gut gerne mal zwei Wochen dauern. Und mit etwas Pech hat mensch nach zwei Wochen statt des StGB ein lustiges Taschenbuch (nach einer wahren Begebenheit).

Entschuldigt mich für diese langen Ausführungen, aber ich bin da momentan echt ein bisschen wütend über diese großartigste System, welches übrigens keinen Optimierungsbedarf hat, meine unwissenden Kommentare wurden selbstverständliche zurückgewiesen. Wie konnte ich mir nur einbilden, ein Bottleneck in dem großartigsten System entdeckt zu haben?

Auf jeden Fall warte ich wohl noch ein paar Tage auf meine Bücherbestellung, wo unter anderem auch „Das geheime Leben der Bäume“ von Wohlleben dabei ist.

Das Buch hat in den letzten Wochen im Wald ein lieber Mensch aus meinem Barrio gelesen und nicht nur einmal mit kleinem Augenzwinkern erwähnt. Als ich dieses Buch dann in der Liste entdeckte, habe ich sofort menschs Stimme im Kopf gehört.

Falls du diesen Brief liest, möchte ich dir gerne sehr sehr liebe Grüße ausrichten, und natürlich auch an alle andern tollen Menschen aus dem Norden – also die mit der Nordengröße.

Ich denke sehr oft an euch. Ich bin sehr dankbar für die Zeit, die ich mit euch verbringen durfte. Auch, wenn die Zeit sehr stressig war, ich habe mich sehr wohl mit euch gefühlt.

Wie auch immer die Zukunft aussehen wird, ich werde noch lange an die letzten Monate denken.

Vielen Dank auch an alle anderen Hambis und Unterstützis!

Keep loving and fighting!

Andrea

Ps: Damit ich euch persönlich antworten kann, hinterlegt doch z.B. eine Kontaktmöglichkeit beim ABC. So bekommt die Staatsanwaltschaft keine Adressen und wir können Briefe schreiben:)
Nachtrag vom 4.Oktober 2018

Heute hatte ich das erst mal Besuch von meiner*meinem Anwält*in. Die Akten sind mittlerweile da und wir haben einiges klären können.

Dieser Besuch hat mir wieder viel Kraft gegeben und Ungewissheiten genommen.

Ich freue mich sehr, dass andere wieder frei sind, wir werden uns wieder sehen…

Weiter würde ich mich über ein bisschen Kleidung freuen, falls ich noch ein bisschen länger hier fest sitzen sollte. Vielleicht lässt sich die Übergabe mit dem ABC koordinieren.

Vor kurzem wurde die Menge an Kleidung, die jede*r Gefangene*r besitzen darf, gedeckelt, weshalb absprechen besonders wichtig ist. Deswegen liste ich auch genau auf, wie viel ich haben will:

1 großes Handtuch, 1-2 Hosen (gerne mit vielen Taschen), 1 Mütze, 1 Schlauchi (mein letztes wurde leider von den Bediensteten in der JVA genommen), 2 Hoodies, 1 Jogginghose, 1 kurze Sporthose, 1 Leggins/Yogahose, 3 T-Shirts (am liebsten langärmelig), 1 Sport-Shirt, 1 Schal und ein Paar Handschuhe.

Ich schicke eine Wäschemarke, womit mir die Kleidung übergeben werden kann, so schnell es geht zum ABC. Ich bin 1,7ßm groß und wiege 60kg, „Männer“ Größe S passt eigentlich immer, „Frauen“ Größe ist kompliziert… tendenziell M-L.
Nachtrag 4.Oktober 2018 Abend:

Gerade wurden mir zum Abendessen drei Briefe/Postkarten überreicht, ich bin überglücklich! Vielen Dank an alle Menschen, die an mich denken und mir schreiben, egal, ob der Brief ankommt oder nicht, ich weiß, dass ihr an mich denkt.

Vielen Dank Sabine für deine nette Postkarte!

Vielen Dank Eleni für deinen wunderschönen Brief! Mit dem Video meinst du vermutlich Winter, da war ich schon im Gefängnis. Der Alltag hier ist vermutlich noch grauer, als du es dir vorstellen kannst. Ich habe ja in dem Brief schon ein bisschen geschrieben. Dein Brief hängt jetzt über dem Schreibtisch :)

Auch vielen Dank Sunny!