Brief #3 von Winter

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Erhalten 10. Oktober 2018

Anmerkung abc: Der folgende Brief wurde noch vor der Entlassung von Winter aus der JVA Köln geschickt. Ein Datum liegt uns leider nicht vor.

Anmerkung Winter zu den offenen Briefen: Ich schreibe manchmal in der “wir”-Form, aber ich spreche nur für mich und nicht für die Besetzung. Es geschieht aus einem Gefühl heraus, aber jede*r *s von uns hat andere Gedanken.

Ich denke viel darüber nach, warum ich das Gefühl habe, dass Eingesperrtsein hier gar nicht so schlimm ist. Ich glaube, es ist das, was auch draußen so oft passiert:

Du richtest dich ein, passt dich an, erleichterst dir das Leben durch kleine Belohnungen. Du rebellierst nicht, weil du nicht daran glaubst, dass es sich lohnen könnte. Du sagst dir: Anderen geht es viel schlechter, ich sollte zufrieden sein.

Viele Menschen draußen glauben dazu noch, sie wären frei, träfen eigene Entscheidungen, leben selbstbestimmt. Sie denken, sie essen Tiere, weil sie es wollen, aber sie reproduzieren nur, was sie gelernt haben. Sie machen das nach, was ihnen von klein auf vorgemacht wurde. Sie leben in einer riesigen Matrix, die Staat und Gesellschaft aufgebaut haben.

Da raus zu kommen ist schwer, aber erst ab hier beginnt die Autonomie. Erst ab hier sind Freiheit und Selbstbestimmung überhaupt möglich.

Die Menschen, die du dann triffst, denen es genauso geht wie dir - das ist wie ankommen, ein Zuhause finden.

Ich werde hier nicht bestraft durch das, was ich erlebe, sondern durch das, was ich nicht erlebe. Die Möglichkeiten, die ich nicht wahrnehmen kann, die Nicht-Teilhabe am Leben draußen, das Ausgeschlossensein.

Die Welt dreht sich weiter. Ohne uns.

Ich kann mich nur auf jeden Tag für sich konzentrieren, Abschnitt für Abschnitt bewältigen - die Zeit bis zum Mittagessen, die Zeit bis zum Abendessen, usw.

Es ist so absurd hier: wenn du Geld hast, kannst du dir beim Einkauf Sachen kaufen oder einen Fernseher in die Zelle bekommen. Es gibt zwar so was wie Taschengeld, aber das ist wenig, zumindest für die rauchenden Menschen hier.

Ich fühle immer wieder in mich rein, aber da ist nichts, nichts Schlimmes. Fühle mich relativ entspannt und leer. Irgendwie betäubt.

Da ist fast weniger Schmerz als draußen. Es gibt keine Ebbe mehr und keine Flut. Es bewegt sich auch nichts.

Vielleicht bin ich ein Stausee geworden.

Ich denke, ich müsste doch irgendwo bluten, irgendwo ein riesiges Loch haben. Ihr habt mich und die anderen brutal aus unserem Leben gerissen. Ihr habt eine Schere genommen, habt mich aus der Seite ausgeschnitten und mich ins Gefängnis gesteckt.

Die anderen habt ihr vom Tisch gefegt. Sie irren irgendwo herum. 

Aber ich fühle kaum was.

Vielleicht ist hier ein Vakuum und es gibt weder schöne noch traurige Gefühle.

Weinen kann ich nur bei Besuch oder Post. Vielleicht bin ich auch einfach erleichtert. Ich hatte so viel Angst vor der GeSa und dem hier. Jetzt nicht mehr. Ich habe viel gelernt, dafür ist es gut, dass ich hier bin.

Allmählich dämmert mir auch, dass ich noch das bessere Los gezogen haben könnte.

Ich bin hier, habe irgendwie ein klares Ziel – einen Tag rum zu bringen und dann wieder einen und wieder einen. Ich fühle mich einsam und ich bin Tag und Nacht allein (abgesehen von einer Stunde Hofgang am Tag, aber da will/muss ich mich bewegen, will ich das Bewegen auch voll und ganz wahrnehmen, nicht reden). Es gibt Umschluss, aber drei Stunden mit den Menschen hier, die mir so fremd sind in einer Zelle, packen weder sie noch ich.

Ich weiß nicht, wann ich im Wald das letzte Mal ohne andere Menschen in einem Raum geschlafen habe. Gemeinschaft. Nähe. Einfache Nähe zwischen Menschen. Ohne Hintergedanken. Ohne mehr.

Wie verloren müssen sich die Waldmenschen draußen fühlen, ohne Ort, Orientierung, ohne Halt. Ohne Wald. Ich fühle, dass die Angst vor dem Danach langsam beginnt. Vielleicht bleibe ich lieber hier. Wo sollte ich auch hin?

Ich weiß, es geht weiter. „Aber es wird nie wieder“, schreit mein Herz. Loslassen, das kann ich noch nicht. Ist es überhaupt schon vorbei?

Dieses Gefühl nicht genug gekämpft zu haben. Nicht alles versucht, nicht getobt zu haben, nicht zum Sturm geworden zu sein, der Maschinen, Autos, Scheinwerfer hinwegfegt. Ja, wie gerne würd‘ ich mich verwandeln. Einmal stärker sein.

Diese Gefühl zu spät begonnen, es nicht ernster genommen zu haben. Wir waren noch voll im Sommerrausch, wollten nicht wahrhaben, dass es so schnell gehen könnte. Hatten fast vergessen, dass nach dem Sommer der Herbst kommt und es die Rodungssaison immer noch gibt. Letztes Jahr hatten wir noch Glück.

Nein, keine Vorwürfe. Ich weiß, wir haben alles gegeben, uns gegeben. So wie wir konnten.

Im Wald zu leben war wie im Bauch eines gigantischen Wals zu sein. In einer riesigen Blase aus prickelnder Luft.

Alles war intensiver als draußen, lebendiger. Alles drehte sich um dieses neue Leben. Die Welt hier war ehrlicher, einfacher, manchmal mühseliger, oft liebevoller. Viel Glück, viel Schmerz. Keine Zeit, keine Uhren, nur dunkel, nicht dunkel.

Draußen erschien so weit weg, unwirklich abgetrennt. Wir wussten immer, es ist nicht von Dauer.

Wird der Wald gerettet, gehen wir freiwillig.

So viel Abschiednehmen. So viel Kommen und Gehen. So viel Herzen öffnen, Herzen schließen. So viel Zusammenfinden, so viel Trennen. So viel Fühlen. Bittersüße Freiheit.

Ohne euch alle da draußen wäre die Welle über uns geschwappt und hätte uns verschlungen. Wir hätten keine Zeit gehabt zu schreien. 

Ich bin dankbar und froh über unsere Vielfalt. Darüber, dass jede*s*r einen Platz findet in diesem Mosaik aus Widerstand.

Wir sind stark, weil wir so unterschiedlich sind, mal wild, mal zart, mal laut, mal leise, mal bunt, mal schwarz. Ein Schwarm an Möglichkeiten, Fähigkeiten.

Verbunden in Solidarität.

Ihr kamt, brachtet uns Essen, manchmal Geld. Wir sagten: wir brauchen nichts. Nur Menschen.

Ich will kein Wesen vor den Kopf stoßen, nicht bewerten, urteilen, vergleichen.

Jede*s*r gibt was sie*er*es kann, viele von euch stecken fest in ihrem Leben, haben Verantwortung für Kinder. Ihr könnt nicht einfach von Bord springen. Ihr gebt, was ihr könnt und tut, was ihr könnt.

Aber bitte, horcht in euch hinein, horcht und entscheidet, ob es nur Angst ist, die euch hindert oder Gewohnheit, die euch stoppt.

Wir brauchen euch und wir brauchen nicht nur milde Gaben oder eure Herzen, wir brauchen euch mit Haut und Haar. Wir brauchen euren Mut, euren Ungehorsam, eure Arme, Beine, Augen.

Geht mit euren Körpern und allem, was ihr seid, an den Ort, an dem das Unrecht geschieht, fühlt es in eurem Innersten, sehr es an bis ihr es kaum noch ertragen könnt und dann werdet wütend!

Empört euch und schreit und tobt, vergesst eure Angst und schmeißt euch denen entgegen, die meinen, sie haben das Recht über unser Leben zu bestimmen, unsere Zukunft.

Glaubt daran, dass ihr selbst fähig seid, zu entscheiden, was richtig ist und legitim.

Lasst euch nicht verunsichern durch Gesetze, nicht ablenken durch Konsum, nicht betäuben durch Partys, nicht drohen mit Repression.

Das ist unsere Welt, die geben wir nicht kampflos her, die opfern wir nicht wehrlos dem Profit.

Dieser Wald gehört sich selbst, aber er schenkt sich uns allen.

Lasst euch nicht knechten vom Geld, ausbeuten vom System, hässlich machen von der Werbung, beherrschen von Normen und unterdrücken von der Politik.

Bleibt hungrig suchend nach Freiheit und Wahrheit und gebt niemals auf, egal wie weh es tut.

Wir werden Lücken finden, uns festklammern, wir werden wieder und wieder rebellieren und uns vereinen.

Wir werden keine „rechtsfreien“ sondern unrechtsfreie Orte schaffen, überall, bis die Welt unser Zuhause ist.

Winter

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